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Vom Wasser haben wir's gelernt?

von Christoph Rinneberg

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Wenn "Machen" - man könnte mit Fug und Recht auch sagen: Basteln, Flicken oder gar Herumwursteln - partout nicht weiterhilft, sollten wir es doch mal mit Nachdenken und neuem Denken versuchen, das sich von dem fairen - nämlich gerechten, ausgleichenden, schönen - Bild der "Mutter Erde" inspirieren lässt, auf der, von der und mit der wir alle leben. Wie die Natur, wie unsere Biosphäre mit dem begrenzten Gut Wasser umgeht, könnte geradezu ein Lehrstück für die Erneuerung unseres Denkens und Handelns sein. Lange ist die abgrundtiefe Weisheit bekannt, dass nur der in klareres Wasser zu gelangen hoffen darf, der sich der Mühe unterzieht, gegen den Strom zur Quelle hin zu schwimmen. Doch das könnte für manche Menschen zu beschwerlich sein oder gar fast unmöglich, wenn man an Wasserfälle denkt.

Was geschieht, wenn wir uns in unserm Denken einmal dem sog. "main stream" des Wassers anvertrauen? Das uns tragende Medium Wasser wird trüber, der Strom wird breiter, unsere Orientierung an festen Punkten wird schwieriger und geht schließlich im großen Meer vollends verloren. Jetzt greift die Natur zu den ihr möglichen "Tricks", ändert durch Einsatz von Wärme und Licht den Aggregatzustand des Wassers und lässt es als Dampf, befreit von nahezu allen Ballaststoffen, in die Atmosphäre aufsteigen. Die dort herrschenden Bedingungen von Temperatur, Druck und Luftströmung (samt Aerosolen) lassen den Dampf wieder zu Wasser zu kondensieren und führen es "irgendwie" verteilt als Regen dem Kreislauf wieder zu. Geläutert von Ballast und Dreck kommt das Wasser also wieder zur Erde zurück und gibt jedem Bach und Fluss erneut die Chance, sauberes Wasser zum Meer hin fließen zu lassen.

Von diesem "starken" Bild der Erneuerung möchte ich mich bei den nachfolgenden Gedanken leiten lassen, um nicht dem jahrmarktähnlichen Geschwätz von Innovationen auf den Leim zu gehen, die meistens viel zu eng auf irgendeine Technik bezogen sind, in ihrem Nutzen oft überhöht dargestellt werden und tunlichst verschweigen, zu wessen Lasten sie gehen werden. Neues Denken ist erforderlich, das alles das zulässt, was unserem Intellekt ("Einsicht") heute zugänglich ist, also wie das Wasser in seinem Kreislauf mit denselben Elementen auskommt. Folgende Einsichten dürften - zumindest je für sich - weitestgehend unbestritten sein:

1. In den hoch entwickelten OECD-Ländern liegen die Wachstumsraten in den letzten 20 Jahren tendenziell unterhalb der Produktivitätssteigerung und haben damit ein fast ungebrochenes Ansteigen der Massenerwerbslosigkeit bewirkt.

2. In den Transformations- und Entwicklungsländern gibt es zwar z.T. hohe Wachstumsraten beim jew. Bruttoinlandsprodukt, die Aufnahmekapazität der Märkte reicht aber nicht aus, um Massenerwerbslosigkeit und Armut dem Wachstum entsprechend abzubauen.

3. Der Erfolg des Keynsianismus nach dem II. Weltkrieg basierte vor allem darauf, vorhandene Wachstumspotentiale zu aktivieren, die sich aus den Zerstörungen des Krieges und dem beim Wiederaufbau zum Zuge kommenden technischen Fortschritt ergaben.

4. Sich erschöpfende Wachstumsressourcen haben in den OECD-Ländern zur Ablösung von extensiven durch intensive Wachstumsstrategien geführt, d.h. Automatisierung und Rationalisierung vorangetriebenen und in der Bilanz die Massenerwerbslosigkeit erhöht.

5. Die mit dem Rückzug des Keynsianismus entstehende wirtschaftspolitische Lücke füllte behänd - Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung postulierend - der sog. Neoliberalismus, der das Heil durch die Verbilligung der Faktorkosten Arbeit und Boden (Natur) versprach und das Unheil einer wachsenden Kluft zwischen arm und reich brachte.

6. Entwicklung und Einsatz an Komplexität zunehmender Technik hat zu Produkten geführt, die manchem Besitzer dienen, Prozesse entstehen lassen, an denen einige wenige Eigentümer enorm verdienen und eine Ökonomie antreiben, der weniger an Deckung originärer Bedürfnisse als an Weckung abhängigkeitsinduzierter, kaufkräftiger Bedarfe gelegen ist.

7. Die gängigen ökonomischen Prinzipien dringen immer weiter in originär gemeinwohleigene Bereiche vor und verstärken damit den Irr-Glauben, über Gebühr angesammeltes Vermögen könne vor den Folgen individueller, sozialer und ökologischer Unverträglichkeiten (Krankheit, Konkurrenz, Wohlstandsgefälle etc.) bewahren.

8. Die gegenwärtige Gesamtbelastung von Ökosystem und Klima hat längst die Grenze dessen überschritten, was unser Planet auf Dauer an Ressourcenentnahme und Systembelastung ertragen könnte - und würde etwa fünf weitere solcher Planeten erfordern, wenn alle gegenwärtig lebenden Menschen den Lebensstandard hätten, der in den industrialisierten Ländern des Nordens zu Lasten der armen Länder des Südens versucht wird aufrechtzuer-halten. Wirtschaftliches Wachstum und Schutz der Umwelt sind von daher unvereinbar.

9. Das Projekt Europa ist bislang hauptsächlich unter wirtschaftlichen Aspekten, der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft entsprechend betrieben worden und hat unter dem herrschenden Bedarf - dem Bedarf der Herrschaft ausübenden transnationalen Konzerne -an ökonomischer Ungleichheit weder zu gleichen Lebenschancen noch zum Entstehen einer Identität geführt, die der Vielzahl der Kulturen ihre Eigenheiten belässt - die Größe der Probleme ist z.B. am Scheitern des ersten Entwurfs einer EU-Verfassung zu erkennen.

Die skizzierte Situation ist lange Zeit bekannt und in vielen Untersuchungen und Publikationen - z.B. UN-Report Human Development - belegt. Wir wissen also, wie es um unseren Planenten und das Leben auf ihm bestellt ist. Unrichtig wäre es gewiss, bisherige Anstrengungen zur Besserung der Lage zu verschweigen. Sowohl die Bemühungen im Großen - wie z.B. die Agenda 21 von Rio - und im Kleinen - wie z.B. die Eine-Welt-Läden - haben gerade mit dazu beigetragen, dem Bewusstsein über die Befindlichkeit unserer Welt durch die Ermittlung und Verbreitung der maßgeblichen Informationen die nötige Breite und Tiefe zu geben. In den großen multinationalen Demonstrationen z.B. von Seattle und Porto Allegre ("Eine andere Welt ist möglich") ist die inzwischen weltweit vernetzte soziale Kraft des Wunsches zum Ausdruck gekommen, die Welt anders zu gestalten mit einer Wirtschaftsweise, die die vielfältigen materiellen, sozialen und kulturellen Grundlagen unseres Lebens nicht aus-beutet sondern so sorgsam mit ihnen umgeht, dass sie auch den nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen. Wirtschaften soll und muss im Dienst des Lebens stehen!

Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde, und eine Vision wird ein gleiches Schicksal erleiden, wenn sie nicht da ansetzt, wo wir Menschen einerseits betroffen sind und andererseits handeln können. Solange der Erwerbsarbeit ein so hoher Stellenwert für Partizipation, Selbstverwirklichung und Wohlstand beigemessen wird, ist neben dem Lohn die Arbeitszeit die entscheidende Stellgröße. Die Kämpfe um die 35-Stunden-Woche belegen das eindrücklich. Prima vista kommt einem da M. Massarrats Vorschlag, die 30-Stunden-Woche in Europa zur Agenda 2010 zu machen, vielleicht etwas illusionär vor, weil sich doch gerade die Arbeitgeberseite im Zuge der neoliberalen oder gar neoimperalen Welle heuer anschickt, die Arbeitszeit der Beschäftigten herauf- und deren Anzahl dementsprechend herabzusetzen.

Wenn weder wir die Augen vor der o.g. Situation verschließen noch andere unseren Blick trüben, dann bietet dieses - länderspezifisch zu differenzierende und bei Gesamtkostenneutralität für Ausgleich bei unteren Einkommensgruppen sorgende - Projekt der 30-Stunden-Woche in Europa reale Chancen auf gute Besserung einfach deshalb, weil seine Antwort auf die nur scheinbar unlösbare Problem-Gemengelage von überraschender Konsistenz ist - und damit Nachvollziehbarkeit, Glaubwürdigkeit und Identifizierungsfähigkeit hat:

a. Angesicht der - aus der Deregulierung gewollt resultierenden - Schwächung der politischen Gestaltungskraft, der Zunahme der Parteienverdrossenheit und der Abnahme der Wahlbeteiligung brauchen wir eine Gesamtaufgabe, von deren Sinn zumindest der überwiegende Teil der Bevölkerung überzeugt werden kann.

b. Das Projekt der 30-Stunden-Woche in Europa wird überzeugt und überzeugend darzustellen sein und in einer Form organisiert sein müssen, die Partizipation, Identifikation und demokratische Gesinnung ermöglicht, anregt und fördert - und damit das ganze Potential unserer am Gemeinwohl orientierten sozialen Bewegungen zur Entfaltung bringt.

c. In Kenntnis der sich hinter Strukturen unsichtbar gemachten Triebkräfte und der von falschen strukturellen Vorgaben ausgehenden Gewalt wird es darauf ankommen, Hauptsteuerungsinstrumente im Sinne des Projekts einzusetzen und z.B. den sog. Leitzins der EZB (Europäische Zentralbank) unter die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts abzusenken.

d. Die bisherige Fixierung auf Partikularinteressen wirkt nicht nur regressiv sondern ist auch in sich brüchig, weil selbst Job-Besitzer und Gutverdienende in den ganzen letzten Jahren Reallohn Einbußen haben hinnehmen müssen.

e. Weil in der Gewerkschaftsbewegung Solidarität zum selbstverständlichen Wesensinhalt gehört, gilt es die Unteilbarkeit der Solidarität in glaubwürdiges Handeln umzusetzen und die von Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen mit ihren berechtigten Interessen an Teilhabe zur nicht-diskriminierenden, willkommenen Mitgliedschaft einzuladen.

f. Synchron mit der schrittweisen Reduzierung der Arbeitszeit muss für Möglichkeiten sinngebender Bildung und Beschäftigung gesorgt werden - zugunsten z.B. geschlechterge-rechter Arbeitsteilung, ehrenamtlicher Betätigung und des Umweltschutzes.

g. Besserverdienende werden es lernen, ihre Partikularinteressen ganzheitlicher zu bewerten und einen Teil ihres Einkommens/Vermögens für den sozialen Ausgleich abzugeben, der allein einer weiteren Spaltung der Gesellschaft Einhalt gebieten könnte.

h. Der überwiegende Teil unserer Gesellschaft, der die Partizipation in Bildung, Ausbildung, Erwerbsleben und Kultur (noch) nicht im zustehenden Maße nutzen mag oder kann, wird lernen, der äußeren Einmischung in eigene Belange die eigene Einmischung in äußere Maßnahmen entgegenzusetzen.

i. Die Dimension Europa für das Projekt der 30-Stunden-Woche ist realistisch, weil sie we-der national zu eng noch global zu unüberschaubar ist und weil eine Europäische Einigung nur unter Wahrung der universalen Menschenrechte mit ausgleichender Gerechtigkeit in den Partizipationschancen stabilisiert werden kann.

j. Je besser Dissonanzen in der Wahrnehmung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte in Europa vermieden werden, umso eher wird unser Teil dieser Erde von anderen Teilen zum Vorbild genommen werden.

k. Mit dem Projekt sollte und könnte in besonders wohlhabenden Ländern wie Deutschland begonnen werden, wo die in 2 Jahren anfallenden Zinsen und Gewinne aus Vermögen zum Aufwiegen und Ausgleichen der Schulden aller öffentlicher Hände heranzuziehen wären.

Vom Wasser können wir's lernen wie von der Luft auch: Die wesentlichen, lebensnotwendigen Güter dieser Erde lassen sich in jeder Hinsicht verträglich nur gemeinsam genießen. Lebensgrundlagen sind Allgemeingut und dürfen weder zu profitablen Waren noch zu machtanhäufendem Eigentum gemacht werden. Auf dieser Basis kann unsere Welt anders gestaltet dies und zu unserer Haupt-Sache werden. Es mag Gründe dafür geben, dass wir eigentlich erst auf den "neuen Menschen" mit einem "neuen Bewusstsein" warten müssten. Jedoch:

Abwarten bringt nichts, weil dies nur die herrschenden Verhältnisse konservieren hilft. Und:

Eine Bewegung kann nur dann dynamisch werden, wenn sie die Energie der Lage in Energie der Bewegung verwandelt statt sich mit der in Ruhe befindlichen Kraft zufrieden zu geben.

Worauf wird eigentlich noch gewartet?

( nach oben) (Gästebuch)

Die 30-Stunden-Woche für Europa - Im 21. Jahrhundert stehen Nachhaltigkeit und die gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen auf den Plan, von Mohssen Massarrat (pdf)
siehe auch EMANZIPATION HUMANUM


Mensch werden: mensch-sein.de, Version 16. März 04 - Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt, Dialog erwünscht, Übersetzung in andere Sprachen erwünscht, Kontakt: impressum

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