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Was können wir wirklich wissen? «
Naturwissenschaftliche
Erkenntnis
und Erfahrung
von Wirklichkeit
Prof.
Dr. Hans-Peter Dürr
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1.
Einleitende Bemerkungen
Die
Naturwissenschaft hat uns tiefe Einblicke in die Struktur
unserer Welt und ihre zeitliche Entwicklung verschafft. Sie
hat dem absichtsvoll handelnden Menschen vielfältige
Möglichkeiten eröffnet, Naturprozesse für
seine Zwecke zu nutzen. Die auf diese Weise aufgewachsene
Technik hat unsere Lebenswelt dramatisch verändert.,
Und dies, wegen der Ambivalenz der Zwecke, nicht nur zum
Vorteil des Menschen, sondern wie dies in unserem
Jahrhundert überdeutlich wurde, auch zu ihrem Nachteil.
Naturwissenschaft und Technik haben der Menschheit eine
ernste Existenzkrise beschert. Wir sind nicht nur in einer
"Krise der Immanenz", weil uns die unmittelbare Erfahrung,
als Menschen unauflösbar im Transzendenten - dem
"Einen", dem "Nicht-Zweihaften" - verankert zu sein,
verloren gehen könnte. Wir stehen bereits schon mitten
in einer zweiten Krise, die da "Erschöpfung der
Moderne" genannt wird. Diese zweite Krise läßt
uns die Brüchigkeit und Unzulänglichkeit unserer
heutigen säkularisierten, materialistischen
Weltbetrachtung immer deutlicher gewahr werden. Die Krise
besteht eigentlich darin, daß wir - und hier meine ich
vornehmlich uns in der nördlichen, industrialisierten,
sogenannten entwickelten Welt - in all der Üppigkeit
und all dem Trubel unseres Alltags unter einem Hunger nach
Geistigem und Sinnhaften, einem Gefühl von Verlorensein
und Einsamkeit leiden. Mehr noch, daß uns die tieferen
Ursachen unserer Frustration eigentlich gar nicht
bewußt werden und wir deshalb auch nicht bereit und
willig sind, geeignete Nahrung aufzunehmen. Der Widerstand,
das im eigentlichen Sinne Vernünftige zu tun,
resultiert aus einem falschen Verständnis oder
mangelhaften Gebrauch unserer Rationalität. Die
Rationalität stellt sich uns verengt dar als eine
Fähigkeit, Wissen - exaktes Wissen, wie wir vielfach
glauben - über die Wirklichkeit, die Welt, sammeln und
kritisch denkend verarbeiten zu können, damit es sich
zu einer besseren Steuerung unseres absichtsvollen Handelns
eignet.
Unsere
heute immer noch ungebrochene Zuversicht, unser Leben und
Handeln auf Rationalität in diesem eingeschränkten
Sinne gründen, ja ausschließlich gründen zu
können - d.h. die andere Seite der Rationalität,
die abwägende, wertträchtige Vernunft nicht
wesentlich einzubeziehen - basiert vornehmlich auf den
eindrucksvollen Erfolgen moderner Wissenschaft, insbesondere
den Naturwissenschaften, und den vielfältigen
praktischen Umsetzungen dieses Wissens in Form unserer
modernen Technik.
Wie
so oft in unserer Geschichte kommen wir Menschen dabei immer
wieder in die alte Versuchung: Gelingt es uns einmal, einen
kleinen Zipfel der "Wahrheit" zu erhaschen, dann meinen wir
in diesem Zipfel gleich die einzige und ganze Wahrheit zu
sehen. Wir betrachten das ganze Weltgeschehen nur unter
dieser einen neuen Einsicht und zwängen, was nicht so
recht passen will, mit Intelligenz, Schlauheit, Eloquenz,
doch auch mit unbewußter oder bewußter Mogelei
und Gewalt in dieses Korsett. Dieser Impuls entspringt nicht
nur unserer Dummheit und Ungeduld. Dahinter steht der
verständliche und lebensdienliche Wunsch, die
undurchsichtige Komplexität unserer Mitwelt auf etwas
für uns Einfacheres und damit Einsehbareres,
Überschaubareres zu reduzieren. Durch diese
vereinfachten Vorstellungen der Wirklichkeit und ihrer
eingeprägten zeitlichen Entwicklung gelingt es uns, die
Unsicherheit des Zukünftigen, die wir ständig als
existentielle Bedrohung empfinden und im nächsten
Augenblick auch als dramatische, schmerzhafte, tödliche
Realität erfahren und erdulden müssen, in vielen
Details zu mildern. Ja, es hat sogar den Anschein, als ob
wir unsere primitiven Nachbildungen der Wirklichkeit Schritt
für Schritt so verbessern und verfeinern könnten,
daß sie uns letztlich jegliche Unsicherheit zu
beseitigen erlaubt. Doch immer genau zu wissen, was uns
künftig erwartet, hätte kaum Vorteile für
uns. Im Gegenteil: die eine große, umfassende
Unsicherheit würde durch eine noch bedrückendere
Gewißheit vielfältigen Scheitern abgelöst,
wofür uns die Gewißheit einiger spärlicher
Erfolge kaum entschädigen würde. Die Situation
ändert sich jedoch grundlegend, wenn wir, was wir
glauben, als Menschen wirklich - und nicht nur
eingebildeterweise - auch die Fähigkeit besitzen,
absichtsvoll zu handeln. Dann haben wir prinzipiell die
Möglichkeit, mit unserem Wissen und durch geeignetes
Verhalten, die als sicher prognostizierten negativen Folgen
zu vermeiden und unsere Überlebenschancen erheblich zu
verbessern. Wir können darüber hinaus durch
bewußte Manipulationen unserer Mitwelt versuchen, die
für uns erwünschten Folgen herbeizuzwingen. Wissen
wird hierdurch zu einem Machtinstrument und läßt
in uns die Hoffnung wachsen, durch fortschreitende
Verfeinerungen die Zukunft in immer höherem Maße
meistern, beherrschen und letztlich "in den Griff" bekommen
zu können.
In
vielen Fällen, wenn auch meistens nur kurzfristig,
scheint uns dies ja auch zu gelingen. Macht bezieht ihre
Stärke aus der Einfalt - durch Bündeln von
Kräften und nicht deren Differenzierung. Aber sie ist
wegen dieser Einfalt vergänglich. Die momentanen
Erfolge der "Wahrheitssuche" verleiten zum Fundamentalismus.
Das Körnchen Wahrheit wird unangemessen verabsolutiert.
Wissenschaft und Technik im Verbund mit der Ökonomik
stellt heute in gewissen Sinne so einen Fundamentalismus
dar.
Was
können wir wirklich wissen? Wie steht wissenschaftliche
Erkenntnis und unser naturwissenschaftlich fundiertes Wissen
in Beziehung zu unserem spontanen Erlebnis, zu unserer
allgemeinsten Erfahrung von Wirklichkeit, was immer wir
darunter versehen wollen. Diese Fragen stellen sich heute in
einer überraschend neuen Weise. Eine prinzipielle
Schranke wissenschaftlichen Wissen wird deutlich sichtbar.
Nicht alles ist wißbar. Es gibt ein Wissen um
prinzipielles Unwissen. Diese Beschränkung soll nicht
nur negativ zu werten, denn Wissen ist nicht alles. Im
Gegenteil, die prinzipiellen Grenzen des Wissens öffnen
in unserer vorgestellten Wirklichkeit wieder Räume, die
nur durch Glauben zugänglich sind, einem Glauben, der
mehr bedeutet als ein Noch-nicht-wissen.
Ausgelöst
wurde diese neue Sichtweise durch die revolutionären
Entdeckungen in der Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts
und die dadurch notwendige radikale Neuinterpretation der
Grundlagen der Physik. Erstaunlich ist dabei, daß
dieser tiefgreifende Wandel in unserem Verständnis der
Wirklichkeit auch heute noch, fast genau hundert Jahre nach
den bahnbrechenden Arbeiten von Max Planck und Albert
Einstein, in unserer Gesellschaft und ihren Wissenschaften
kaum philosophisch und erkenntnistheoretisch nachvollzogen
worden ist. Und dies nicht etwa aufgrund eines Versagens der
neuen Vorstellungen. Im Gegenteil, die Quantenphysik, welche
diese neue Entwicklung bezeichnet, hat in den letzten
siebzig Jahren seit ihrer Ausdeutung einen beispiellosen
Triumphzug durch alle Gebiete der Physik angetreten und sich
bis zum heutigen Tage unangefochten bewährt. Sie ist es
ja, die vor allem in der Folge die ungeahnten technischen
Entwicklungen angestoßen hat, die unserem Zeitalter,
zum Guten oder Schlechten, unverkennbar ihren Stempel
aufgedrückt haben. So wären die Atomkerntechnik
und die modernen Informationstechnologien ohne die neuen
Einsichten nicht möglich gewesen. Obwohl alle diese
viefältigen, erstaunlichen und gewaltigen Konsequenzen
wissenschaftlich akzeptiert wurden, so fühlt sich auch
heute noch die Wissenschaft in gewisser Hinsicht
überfordert, gleichzeitig die in hohem Maße
überraschenden Vorstellungen zu übernehmen, aus
denen die neue Physik eigentlich erst verständlich
wird.
Dies
hat viele Gründe. Allen voran: Der Bruch, den die neue
Physik fordert, ist tief. Er bezeichnet nicht nur ein
Paradigmawechsel, wie dies von Thomas Kuhn in seinem Buch
"The Structure of Scientific Revolutions" 1962 beschrieben
worden ist. Deutet diese neue Physik doch darauf hin,
daß die Wirklichkeit im Grunde keine Realität im
Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist. Wirklichkeit
offenbart sich primär nur noch als Potentialität,
als ein "Sowohl-Als-auch", also nur als Möglichkeit
für eine Realisierung in der uns vertrauten stofflichen
Realität, die sich in objekthaft und der Logik des
"Entweder-Oder" unterworfenen Erscheinungsformen
ausprägt. Potentialität erscheint als das Eine,
das sich nicht auftrennen, grundsätzlich nicht zerlegen
läßt. Auf dem Hintergrund unserer gewohnten,
durch das klassisch physikalische Weltbild entscheidend
geprägten Vorstellungen klingt dies ungeheuerlich,
eigentlich unannehmbar.
Fast
hat es den Anschein, als ob die großen Probleme
unserer Zeit teilweise darin begründet liegen,
daß wir in den Gesellschaftswissenschaften, in der
Politik wie in der Wirtschaft, mit den veralteten
Vorstellungen des 19. Jahrhunderts versuchen, die neuen
Kräfte zu bändigen, die uns aufgrund der ganz
andersartigen Einsichten im 20. Jahrhundert zugewachsen
sind. Diese Erkenntnis wäre noch kein Grund zur
Beunruhigung, wenn es nur darum ginge, nun einfach geduldig
abzuwarten, bis die neuen Vorstellungen auch in den
Gesellschaftswissenschaften und in unserem politischen
Alltag eingedrungen sind. Doch die zeitweilige
Unfähigkeit, unser Handeln mit dem angemessenen Denken
in Einklang zu bringen, könnte angesichts der
entfesselten Einwirkungspotentiale die Menschheit leicht aus
der Evolution katapultieren.
Dabei
wäre das sich herauskristallisierende neue
naturwissenschaftliche Weltbild im hohem Maße
geeignet, die verschiedenen Wissenschaftszweige - so die
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften - wieder enger
zusammenzuführen. Es erlaubt Glaube und Wissen,
Religion und Wissenschaft als wesentliche und in gewisser
Weise komplementäre Elemente einer umfassenden
Sichtweise zu verstehen. Der Glaube wird von seiner
Lückenbüßerrolle befreit, in der ihm jeweils
nur noch überlassen bleibt, was bis zu diesem Zeitpunkt
'noch nicht gewußt' wird. Das Wißbare
erfährt in der neuen Weltsicht eine prinzipielle
Einschränkung. Dadurch erhält der Glaube wieder
seine volle Bedeutung und eigenständige Wertigkeit
zurück.
2.
Über die Wahrheit
Glaube
und Wissen sind beide auf "Wahrheit" gerichtet. Wahrheit
bedeutet jedoch in beiden Fällen etwas anderes. In der
neuen Sichtweise wird es in gewisser Weise keine dieser
Wahrheiten mehr geben, sondern "offenere Wahrheiten" werden
an ihre Stelle treten, die in subtiler Weise beides
enthalten.
Ich
spreche als Naturwissenschaftler, als Physiker,
Elementarteilchenphysiker. Ein Naturwissenschaftler
analysiert, zerlegt, fragmentiert, um die Wahrheit zu finden
- und landet deshalb notwendig beim Allerkleinsten.
Auch
der Gläubige sucht nach Wahrheit. Er sucht sie in der
Religion. Er nähert sich ihr in kontemplativer Haltung,
in der meditativen Versenkung, erlebt sie in der
Öffnung zum Ganzen.
Die
Wahrheiten des Wissenschaftlers und des Gläubigen sind
verschieden, und doch versuchen sie Antworten auf letztlich
dieselbe Frage. Sie spiegeln in gewisser Weise nur unsere
doppelte Beziehung zur Wirklichkeit wider. Das die Welt
beobachtende Ich-Bewußtsein, einerseits, und das
mystische Erlebnis der Einheit, andererseits,
charakterisieren komplementäre Erfahrungsweisen des
Menschen. Die eine führt zu einer kritischrationalen
Einstellung, in welcher der Mensch die Welt in ihrer
Vielfalt - fast im wörtlichen Sinne - begreifen, sie
mit dem eigenen begrifflichen Denken erfassen will. Die
andere erschließt sich ihm in einer mystischen
Grundhaltung, in der er durch Hingabe und Meditation
unmittelbar zum eigentlichen Wesen der Wirklichkeit
vorzudringen versucht. Komplementär bedeutet hier:
Daß beide möglich sind und sich gleichzeitig
ergänzen und ausschließen, wie
"Raumerfüllung" und "Zwischenraum" oder im bekannten
Vexierbild die "beiden zugewandten Schattenprofile" zu der
zwischen ihnen aufgespannten "Vase". Es sind zwei Arten des
"Wissens", das "begreifbare Wissen" und die "Gewißheit
um den inneren Zusammenhang", die "Außenansicht" mit
der Trennung von Beobachter und dem Beobachteten, und die
"Innensicht", die dem Wesen nach immer holistisch ist, wo
das Wahrnehmende auch gleichzeitig das wahrgenommene
ungetrennte Eine ist. Erfahrung meint beides:
Außenansicht und Innensicht.
Die
Innensicht ist "näher, inniger, weiter, umfassender,
offener, ganzheitlich", wobei diese aus der
Außenansicht entlehnten Worte in ihrer strengen
Begrifflichkeit ganz unangemessen sind. Metaphorisch
verstanden können sie jedoch auf eine Innenerfahrung
deuten.
In
der Außenansicht nehmen wir die Welt um uns herum,
unsere Mitmenschen und uns selbst auf eine
äußerliche Weise wahr. Die Außenansicht ist
lebensdienlich, der greifenden Hand angepaßt, die
wiederum sich an der speziellen Struktur der Lebenswelt
entwickelt hat, in die wir existentiell eingebettet sind.
Handeln ist zweiwertig: ich greife oder ich greife nicht,
ich habe oder ich habe nicht. Das eine schließt das
andere aus. So auch unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit:
Sein oder Nichtsein. Unser fragmentierendes Denken, unsere
begriffliche Sprache hat sich in dieser auf Handlung
orientierten Welt herausgebildet. Deshalb auch zweiwertig
unser Denken: richtig oder falsch, 'tertium non datur'.
Dieses zweiwertige Ordnungsschema braucht jedoch nicht der
Struktur der eigentlichen Wirklichkeit zu entsprechen,
sondern ist zunächst für uns lebensdienlich in dem
Sinne, daß es ein für unser Überleben
wichtiges Handeln wirksam unterstützt. Doch ist
äußere Erfahrung letztlich wieder nur als innere
Erfahrung, durch spontane Evidenz spürbar. Auch dort
nur Gewißheit, wenn es in mir tönt: Es ist so!
Ja, ich habe verstanden! Es gibt nichts, was
durchgängig bewiesen werden kann, sondern alles
mündet am Ende in unmittelbare Erfahrung, die ich durch
Identifizierung schlicht außerhalb allem Dualismus als
wahr erlebe.
Die
unauftrennbare Innensicht erlaubt keine zweiwertige
Unterscheidung. Es gibt kein Wissen, doch auch kein
Unwissen. Vielleicht Weisheit, die über beiden schwebt,
als unscharfer Abdruck des äußeren Wissens im
Innern. Und mit einer Unschärfe, die sich nicht im
Mangel an Schärfe erschöpft, sondern erst die
Möglichkeit eröffnet, Gestalt wahrzunehmen:
Vertrautheit, Sinnhaftigkeit, Wertordnung.
Unsere
Vorstellung von der Wahrheit ist durch die Polarität
der Außenansicht deformiert: Wahr oder nicht wahr?
Wahrheit ist allgemeiner, sie braucht nicht unbedingt diese
lebensdienliche Zweiwertigkeit. Wahrheit kann offener sein,
sich auch in einem Sowohl-als-auch verdeutlichen, ohne dabei
ihre Gewißheit einzubüßen. Es fehlt uns die
Sprache, dies ausdrücken zu können, da Sprache
primär der Außenansicht zugeordnet ist. Wir ahmen
dieses Sowohl-als-auch nach, indem wir, wie mit dem Finger
darüberstreichend, seine "Gestalt" punktweise zu
ertasten suchen. Das ganzheitliche Sowohl-als-auch erscheint
dann in unserer kritisch rationalen Vorstellung als
vielfältige, nebeneinander liegende Entweder/Oders,
deren Synthese die Gestalt imitiert ohne je ihre Ganzheit zu
erlangen.
In
der abendländischen Geschichte stehen die beiden
unterschiedlichen Grundhaltungen, der Außenansicht und
Innensicht, in einem fruchtbaren Wechselspiel. Sie spiegeln
sich in der Spaltung von Wissen und Glauben. Der
Rationalismus und später die Aufklärung haben
diese Spaltung vertieft und die zweiwertige
Außenansicht zur einzig wahren, d.h. der Struktur der
Wirklichkeit angemessenen Ansicht erklärt. Sie ist die
Basis unserer triumphierenden Wissenschaft. Sie hat uns
gelehrt unsere Mitwelt zu unserem eigenen Nutzen zu
manipulieren und Wissen als Machtinstrument zur Herrschaft
über Mensch und Natur systematisch zu entwickeln.
Wissen wurde Mittel zur Macht und nicht mehr Quelle der
Weisheit. Die Ausschließlichkeit unseres Denkens:
"Wenn das eine richtig ist, kann nicht das andere auch
richtig sein, also muß es falsch sein" hat viel Zank
und Streit verursacht, vernichtende Kriege entfesselt und
ungeheures Leid über die Menschen gebracht.
Die
moderne Physik hat uns gelehrt, daß die Struktur der
Wirklichkeit im Grunde eine ganz andere ist, als es die an
unserem Handeln und Wissen entwickelte, dominante
zweiwertige Struktur der uns direkt zugänglichen
Lebenswelt uns suggeriert. Die von uns als
allgemeingültig erachtete zweiwertige
Außenansicht hat nur begrenzte Gültigkeit. Sie
ist nur vergröbertes Abbild einer tieferen
Wirklichkeit, deren Züge sich uns besser durch
Innensicht offenbaren.
3.
Über prinzipielle Grenzen naturwissenschaftlicher
Erkenntnis
Unsere
Wirklichkeitserfahrung ist reicher als die Erfahrung, die
uns durch wissenschaftliche Erkenntnisse erschlossen wird.
Dies ist offensichtlich für Menschen, die mystische
oder religiöse Erfahrungen gemacht haben. Aber dies
gilt auch viel allgemeiner, wenn wir an die
vielfältigen Erfahrungen denken, die uns Kunst in allen
ihren Formen vermitteln kann. Wir werden uns dieses noch
intimer und umfassender bewußt, wenn uns das so schwer
Greifbare und doch, als Betroffene, unmittelbar
Verständliche anrührt, was wir etwa mit Worten wie
Liebe, Treue, Vertrauen, Geborgenheit, Hoffnung,
Schönheit symbolisieren.
Die
eindrucksvollen Erkenntnisfortschritte in den
Naturwissenschaften hatten dem gegenüber die besonders
in der Aufklärung gehegte Hoffnung verstärkt,
daß letztlich und prinzipiell alles in dieser Welt
menschlicher Erkenntnis zugänglich sei und der bisher
als nicht zugänglich erscheinende Teil sich nur
aufgrund seiner größeren Kompliziertheit unseren
rationalen Einsichten entzieht. Die aus der rationalen
Reflexion geborene Erkenntnistheorie hat jedoch
frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, daß ein
strukturiertes System sehr wohl Untersysteme bewerten kann,
aber nicht Systeme, die ihm übergeordnet sind. Wir
können nicht unmittelbar begreifen, was das
Vermögen unserer Denkprozesse überschreitet. So
wie wir den blinden Fleck in unserem Auge nicht ohne einen
Kunstgriff wahrnehmen können, weil wir von Geburt an
ihn gewöhnt sind, so fällt es uns schwer ohne
besondere Hinweise die Beschränkungen unserer gewohnten
Einsicht zu erkennen. Diese Beschränkungen sollen nicht
nur als ärgerliche Hindernisse gesehen werden: Für
das Überleben unwesentliche Informationen nicht
wahrzunehmen, ist höchst lebensdienlich.
Diese
Überlegungen sollen zeigen: Es ist grob unzulässig
und falsch, unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit mit der
Wirklichkeit schlechthin gleichzusetzen. Genau dies passiert
jedoch, wenn wir wissenschaftliche Erkenntnis als
allumfassend betrachten.
Ich
möchte diese offensichtliche Aussage mit einem
Gleichnis des englischen Astrophysikers Sir Arthur Eddington
verdeutlichen. Eddington vergleicht einen
Naturwissenschaftler mit einem Ichthyologen, einem
Fischkundler, der seine Welt erforschen will. Dies besteht
darin, daß er auf das Meer hinausfährt und Fische
fängt. Nach vielen Fischzügen und
sorgfältigen Überprüfungen seiner Beute
gelingt ihm die Entdeckung des ersten Grundgesetzes der
Ichthyologie: "Alle Fische sind größer als
fünf Zentimeter!" Er nennt dies ein Grundgesetz, weil
er bei keinem Fang jemals einen Fisch fand, der kleiner als
fünf Zentimeter war, und daraus auf eine
Allgemeingültigkeit des Befundes schließt. Auf
dem Heimweg trifft er seinen besten Freund, den ich den
Metaphysiker nennen will, und erzählt ihm von seiner
großen wissenschaftlichen Entdeckung. Der entgegnet
ihm: "Das ist doch gar kein Grundgesetz! Dein Netz ist
einfach so grob, daß dir die kleineren Fische stets
durch die Maschen gehen." Aber der Ichthyologe ist durch
dieses Argument überhaupt nicht beeindruckt und
antwortet entschieden: "Was ich mit meinem Netz nicht fangen
kann, liegt prinzipiell außerhalb fischkundlichen
Wissens, es bezieht sich auf kein Objekt der Art wie es in
der Ichtyologie als Objekt definiert ist. Für mich als
Ichtyologe gilt: Was ich nicht fangen kann, ist kein
Fisch!"
Auf
die Wissenschaft angewendet bedeutet dieses Gleichnis: Um
wissenschaftliche Erkenntnisse zu etablieren, benützen
wir Wissenschaftler immer ein Netz, obwohl die meisten von
uns sich über die Existenz und die Art des Netzes nicht
im klaren sind. Dieses Netz symbolisiert nicht nur das
methodische sondern vor allem auch das gedankliche
Rüstzeug, mit dem wir wissenschaftlich arbeiten. Unser
wissenschaftliches Denken ist wie alles Denken immer
fragmentierend und analysierend. Alles, was wir untersuchen
und verstehen wollen, zerlegen wir. Und das ist auch in
unserer Lebenswelt eine sehr vorteilhafte und erfolgreiche
Methode, an komplizierte Dinge heranzugehen. Unsere
fragmentierende Denkweise ist selbstverständlich nicht
zufällig. Sie hat sich in einer langen
stammesgeschichtlichen Evolution langsam herausgebildet und
dies nicht im Hinblick auf ihre Eignung, die komplizierte
Wissenschaft über die Welt im Großen und Kleinen
zu treiben, sondern zunächst einmal vor allem, um uns
Menschen auf dieser Erde unter den hier vorgegebenen
äußeren Umständen eine Überlebenschance
zu geben. Das heißt grob gesagt: Unser Denken ist
dafür angepaßt, den Apfel am Baum wahrzunehmen
und zu greifen, mit dem wir uns ernähren und nicht
dazu, Atomphysik zu treiben. Wenn wir es trotzdem tun,
dürfen wir uns nicht wundern, daß Atome für
uns letztlich immer wie kleine Äpfel aussehen, weil
dies die einzige Art und Weise ist, wie wir uns die
Wirklichkeit anschaulich vorstellen können.
Daß
wir bei unserer Beschreibung der Wirklichkeit immer mit
einem Netz arbeiten, also notwendig ein Bezugsystem
benützen müssen, war den Philosophen schon immer
bekannt. Die Relevanz dieser Erkenntnis wurde dann aber
dramatisch deutlich, als man in der Physik zu verstehen
suchte, welche Bewandtnis es eigentlich mit den kleinsten
Einheiten der chemischen Elemente hat, die man Atome nannte,
weil man sie als die allerkleinsten, unteilbaren Bausteine
der Materie betrachtete. Doch auch diese lassen sich weiter,
in Elementarteilchen oder noch kleinere Einheiten,
aufteilen. Zum großen Erstauen entdeckte man,
daß wenn man einem solchen winzigen Teilchen
experimentell nachspürt, sich dieses bei einem
Experiment tatsächlich wie ein Partikel gebärdet,
bei einem anderen Experiment aber dann auf einmal sich wie
eine Welle verhält. Je nach Meßmethode offenbart
sich also dasselbe "Objekt" in zwei verschiedenen
Erscheinungsformen, die im Rahmen unserer üblichen
Objekt-Vorstellung auf keine Weise miteinander in Einklang
gebracht werden können.
Dieses
Beispiel zeigt uns, daß eine Beobachtung nur
unzureichend mit der Metapher eines Fischernetzes
beschrieben werden kann, das im wesentlichen nur eine
Auswahl ("größer als fünf Zentimeter") unter
den Fischen trifft und deshalb den Charakter einer
Projektion besitzt. Denn der Akt der Beobachtung führt
darüber hinaus auch zu einer
Qualitätsänderung (Partikel oder Welle) des
Beobachteten, zu einer qualitativen Änderung der
dahinterstehenden nicht-begreifbaren Wirklichkeit.
Die
experimentellen Befunde der modernen Physik - und dort
anfänglich gerade auf einem Gebiet, der Mechanik, wo
alles als recht simpel und übersichtlich galt und sich
überzeugend einfache Naturgesetze ermitteln
ließen - haben uns also zur überraschenden
Einsicht gezwungen: Alles, was wir durch direkte
Beobachtungen oder durch Abstraktion unserer Wahrnehmungen
als Wirklichkeit betrachten und in der Naturwissenschaft als
(stoffliche) Realität beschreiben, darf in dieser Form
nicht mit der dahinter vermuteten 'eigentlichen'
Wirklichkeit identifiziert werden.
Mit
dieser Sprechweise verwenden wir allerdings die
idealistische Sprechweise des Metaphysikers, gegen die sich
der positivistische Ichtyologe verwahrt, indem er etwa
antwortet: "Du magst ja recht haben, vielleicht gibt es in
irgendeinem Sinne diese kleineren Fische, aber warum soll
mich das interessieren? Es ist doch vernünftig und
für unsere menschliche Kommunikation wesentlich, sich
auf das zu beschränken, worüber ich mich objektiv
und eindeutig mit anderen verständigen kann. Im
übrigen, ganz praktisch gesehen, wenn ich auf den Markt
gehe, um meine Fische zu verkaufen, hat mich noch nie jemand
nach einem Fisch gefragt, den ich nicht fangen kann." Diese
letztere Argumentation ist uns gerade heute sehr
geläufig: Die Ökonomie legt prinzipiell keinen
Wert auf Dinge, die man nicht tauschen und nicht vermarkten
kann.
Die
Reduktion der Wirklichkeit auf das objektiv Feststellbare
ist vom pragmatischen Standpunkt aus vorteilhaft. Es wird
keine unentscheidbaren Streitereien geben. Aber es bedeutet
noch lange nicht, daß das prinzipiell Unbegreifbare
unwesentlich für unsere persönlich erfahrbare
Wirklichkeit sein muß. Wissen wir doch: Der Mensch
lebt nicht vom Brot alleine! Wir alle erleben täglich,
daß unsere unmittelbare Erfahrung viel reicher und
umfassender ist, als was wissenschaftlich begriffen und
bewiesen werden kann. Entspricht nicht das meiste, was uns
wirklich wichtig und wesentlich im Leben ist, "Fischen, die
wir nicht fangen können"? Und warum sollen wir nicht
diese "Gewißheit" in gewisser Weise auch als Ausdruck
eines (offeneren) "Wissens" auffassen, obwohl wir es nicht
begreifen können. Hier bietet sich also die
Möglichkeit, dem Religiösen, dem Numinosen, dem
intuitiv und auch künstlerisch Erfahrbaren wieder einen
eigenständigen Wert zuzuordnen und ihnen, entsprechend
ihrer Bedeutung und neben dem naturwissenschaftlich
Beweisbaren, eine angemessene Rangordnung in unserem
persönlichen Leben und im Rahmen unserer Gesellschaft
zu geben.
Viele
bestreiten heute diese Ansicht und betrachten die
gegenwärtige Situation nur als ein Zwischenstadium
einer sich weiter beschleunigenden geistigen Evolution, der
keine Geheimnisse auf Dauer verschlossen bleiben werden.
Gegen unser Ichtyologengleichnis würden sie einwenden,
daß es für die Anwendung auf unsere Wirklichkeit
zu primitiv wäre. Der Mensch sei, meinen sie, doch ein
viel intelligenterer und einfallsreicherer Ichthyologe, der
sehr schnell lernen würde, auch mit Netzen geringerer
Maschenweite zu fischen. Damit haben sie zweifellos recht.
Das Netz ist hier als Gleichnis zu einfach. Aber dies
ändert nichts an der prinzipiellen Aussage: Was immer
wir auch tun, wir brauchen irgendwelche Netze, um zu
fischen. Wir können nicht die Wirklichkeit, über
die wir in der Außenansicht sprechen, ohne ein Netz
beschreiben und deshalb sind wir immer in dieser
Beschränktheit drinnen. Netze, die beweisbares Wissen
möglich machen, definieren gleichzeitig auch die
prinzipiellen Grenzen dieses Wissens, und zwar Grenzen im
Sinne einer 'border' nicht nur einer 'frontier'. Die
Wissenschaft basiert auf fragmentierendem Denken.
Die
sogenannte exakte oder quantifizierende Wissenschaft geht
sogar noch ein Stück weiter. Sie formuliert, wie unser
Ichtyologe, Aussagen wie: Ein Fisch ist größer
als fünf Zentimeter. Die Aussage ist letztlich nur
'fünf", eine Zahl in einer Beziehung zwischen einem
Fisch und einem Stück Holz, das als Meßlatte
dient. Die "wissenschaftliche" Aussage hier sagt nichts
darüber, was ein Fisch und was ein Stück Holz ist,
die ich beide nicht verstehe. Die Aussage erschöpft
sich im "wie" und verschweigt das "was". Durch diese
Beschränkung ist Quantifizierung und durch Zahlen
bemessene Exaktheit und als weitere Konsequenz, die
mathematische Formulierung der exakten Naturwissenschaften
möglich. Obgleich die moderne Wissenschaft
eindrucksvoll zeigt, daß sehr vieles vom "was" seine
Erklärung in einem "wie" findet, ist doch gut
nachvollziehbar, daß die so reduzierte
Wirklichkeitsbeschreibung nur noch sehr bedingt mit der
größeren Wirklichkeit zu tun hat, in die sie
eingebettet ist. Diese Einsicht ist wichtig für einen
konstruktiven Dialog zwischen Naturwissenschaft und
Religion. Sie ist andererseits auch als Hinweis wertvoll,
daß auch Religion, in ihrem verständlichen
Bestreben ihre Botschaften schärfer und
einprägsamer zu fassen und der damit verbundenen
Neigung, metaphorisch Zeigendes durch eindeutig Begreifbares
zu fixieren, ihr eigentliches Ziel verfehlen
muß.
4.
Vom klassich-atomistischen zum modern-holistischen
Weltbild
Eine
Unterscheidung zwischen der wissenschaftlich erkennbaren und
beschreibbaren Wirklichkeit und der durch spontane
Erlebnisse und allgemeinere Erfahrungen bedingt
zugänglichen eigentlichen Wirklichkeit mag einleuchtend
klingen. Sie bleibt als solche unbefriedigend durch die
Unbestimmtheit wie die wissenschaftliche Wirklichkeit in die
eigentliche eingebettet erscheint. Die Beziehung zwischen
wissenschaftlicher und eigentlicher Wirklichkeit kann jedoch
nicht willkürlich sein, kein "anything goes", nicht
blinde, strukturlose Pluralität, die absolute Flachheit
symbolisiert. Doch sollten wir auch nicht erwarten,
daß auf die Frage, was dieser Beziehungsstruktur zu
Grunde liegt, im Rahmen unseres Denkens überhaupt eine
schlüssige Antwort formuliert werden kann. Denn eine
höhergeordnete Struktur läßt sich niemals
aus den ihr nachgeordneten Teilstrukturen vollständig
und eindeutig synthetisieren und verstehen: Das Ganze ist
mehr als die Summe seiner Teile. Deshalb erfordert ein
tieferes Verständnis, daß wir mit dem Ganzen
beginnen. Ein Zugang zum Ganzen scheint uns zunächst
nur unsere Innensicht, durch meditative Versenkung und ein
intensiver Dialog mit anderen, die den gleichen Weg
eingeschlagen haben, zu eröffnen. Ein anderer,
andersartiger Zugang, könnte jedoch vielleicht auch ein
neugieriger Blick über die Grenze des Wißbaren
bieten, so wie sie uns von der modernen Physik aufgezeigt
wird. Eine solche kleine Reise zur Grenze des Wißbaren
möchte ich jetzt kurz unternehmen.
In
unserem Ichtyologengleichnis ist es das "Netz", das Wissen
erst ermöglicht und gleichzeitig die prinzipielle
Beschränkung erzwingt. In der Parabel ist das Netz noch
ein Fremdling, dessen Herkunft unbestimmt und
willkürlich bleibt. Das ist es selbstverständlich
nicht. Es wurde vom Fischer in seinem Überlebenswillen
als erfolgreichste unter vielen anderen Fischfang-Methoden
letztlich ausgewählt. Das Netz ist also auch ein Teil
des großen Ganzen und seiner speziellen Struktur, zu
der die Fischwelt und der Fischer gemeinsam gehören. Es
ist deshalb aufschlußreich, kurz einmal einen Blick
auf die im Vergleich zur klassischen Physik radikal
veränderte Beziehung zu werfen, in der in der modernen
Physik die Teile zu ihrem Ganzen stehen sollen.
Die
Welt in der Beschreibung der alten, "klassischen" Physik
existiert in Raum und Zeit. Raum und Zeit spielen jedoch
eine ganz unterschiedliche Rolle. Die Welt zeigt eine
eigentümliche Zeitschichtung. Im augenblicklichen
"Jetzt", das wir Gegenwart nennen, offenbart sich uns, ein
mit unseren Sinnen spontan austastbarer dreidimensionaler
Raum - und nur dieser gegenwärtige Raum ist uns direkt
zugänglich, unmittelbar erlebbar. Dieses
augenblickliche Erfahrungsfeld jedoch wird sofort wieder
zugedeckt durch ein ähnliches Erfahrungsfeld in der
nächsten Gegenwart. Die Raum-Zeit-Welt, die
Wirklichkeit zeigt sich uns also eigentümlicherweise
nicht als Ganzes, sondern immer nur scheibchenweise, Schritt
um Schritt in einer Folge, die wir Zeit nennen. Wir
verstehen eigentlich nicht, warum der "liebe Gott" uns
nicht, ähnlich wie in räumlicher Ausdehnung, auch
einen Einblick in die zeitliche Dimension seiner
Schöpfung erlaubt, die uns selbstverständlich
brennend interessiert, weil dort alles verborgen ist, was
uns in Zukunft - an Freud' und Leid - erwartet.
Wir
Menschen haben jedoch erkannt, daß die
aufeinanderfolgenden Erfahrungsfelder nicht unkorreliert
sind, sondern durch Gesetzmäßigkeiten verbunden
sind, die sich in Form quantitativer, allgemein
gültiger Naturgesetze fassen lassen. Der Erfolg der
Naturwissenschaften war und ist ja triumphal: Die
Naturgesetze glaubt man weitgehend entschlüsselt zu
haben. Und das bedeutet nicht nur Erkenntnisgewinn,
nämlich zu wissen, was uns in Zukunft erwartet, sondern
eröffnet uns auch die Möglichkeiten für uns,
unser Leben vorteilhafter für uns gestalten zu
können, indem wir entsprechend diesen Einsichten
versuchen, Gefahren zu vermeiden und unser Umfeld geeignet
zu manipulieren. Dies gelingt selbstverständlich nur,
wenn wir uns als Menschen, nicht völlig als Teil dieses
als streng determinierten erachteten Mechanismus "Natur"
verstehen, sondern uns, gewissermaßen als Ebenbild
Gottes, als wesentlich außerhalb der Schöpfung
und damit über die Natur erhaben betrachten.
Die
Natur ist stofflich, materiell. Wir können sie
zerlegen, ohne daß sie ihre materielle Eigenschaften
verliert. Wir sprechen von kleinsten Teilchen, die sich
nicht weiter zerbrechen lassen, Atome, die
gewissermaßen unendlich hart sind. Sie sollen die
Eigenschaft haben, daß sie im Laufe der Zeit immer mit
sich selbst identisch bleiben. Durch die zeitliche
Kontinuität der Materie wird so eine Kontinuität
der Welt gewährleistet. Die beobachtbaren
Veränderungen in der Welt geschehen durch Umordnen
dieser kleinsten Teilchen. Wir haben also die Sichtweise:
der Stoff, die Materie ist primär, sie bleibt gleich;
die Form, die Gestalt ist dagegen sekundär, sie
entsteht durch die Beziehungsstruktur von Stoff, durch die
Wechselwirkung der Materie, und ändert sich
ständig im Ablauf der Zeit.
Die
moderne Physik kommt nun zu der überraschenden
Erkenntnis: Materie ist nicht aus Materie aufgebaut! Wenn
wir die Materie immer weiter auseinandernehmen, in der
Hoffnung die kleinste, gestaltlose, reine Materie zu finden,
bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie
erinnert. Am Schluß ist kein Stoff mehr, nur noch
Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung.
Was
bedeutet das? Wir haben eine Umkehrung: Das Primäre ist
Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Materie ist ein
Phänomen, das erst bei einer gewissen vergröberten
Betrachtung erscheint. Stoff ist geronnene Form. Vielleicht
könnten wir auch sagen: Am Grunde bleibt nur etwas, was
mehr dem Geistigen ähnelt - ganzheitlich, offen,
lebendig: Potentialität. Materie ist die Schlacke
dieses Geistigen - zerlegbar, abgeschlossen, determiniert:
Realität. In der Potentialiät gibt es keine
ein-eindeutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Zukunft
ist im wesentlichen offen. Es lassen sich für das, was
"verschlackt", was real passiert, nur noch
Wahrscheinlichkeiten angeben. Es gibt keine Teilchen, die
unzerstörbar sind, die mit sich selbst identisch
bleiben, sondern wir haben ein "feuriges Brodeln", ein
ständiges Entstehen und Vergehen. In jedem Augenblick
wird die Welt neu geschaffen, aber im Angesicht, im
"Erwartungsfeld", der abtretenden Welt. Die alte
Potentialiät in ihrer Ganzheit gebiert die neue und
prägt neue Realisierungen, ohne sie jedoch eindeutig
festzulegen. In diesem andauernden
Schöpfungsprozeß wird ständig ganz Neues,
Noch-nie-dagewesenes geschaffen. Alles ist daran beteiligt.
Das Zusammenspiel folgt bestimmten Regeln - physikalisch
wird es beschrieben durch eine Überlagerung
komplexwertiger Wellen, die sich verstärken und
schwächen können. Es ist ein Plus-Summen-Spiel, wo
Kooperation zur Verstärkung führt und was
interessanterweise auch eine teleologische Ausrichtung
(Hamiltonsches Prinzip der kleinsten Wirkung) imitieren
kann. Der zeitliche Prozeß ist nicht einfach
Entwicklung und Entfaltung, ein "Auswickeln" von schon
Bestehendem, von immerwährender Materie, die sich nur
eine neue Form gibt. Es ist echte Kreation: Verwandlung von
Potentialität in Realität.
Das
mag eine schlechte Nachricht für diejenigen bedeuten,
die Natur manipulieren und letztlich fest "in den Griff"
bekommen wollen. Denn wir können gar nicht genau
wissen, was unter vorgegebenen Umständen in Zukunft
passieren wird. Und dies - wohlgemerkt - nicht aus noch
mangelnder Kenntnis, sondern als Folge der
Sowohl-als-auch-Struktur der Potentialität, die mehr
die lose Verknüpfungsstruktur freier Gedanken
hat.
Das
ist aber eine gute Nachricht für alle diejenigen, die
den Menschen als einen Teil derselben einen großen
Wirklichkeit betrachten und erleben, ohne bei dieser
Einbindung in das Eine den Menschen und die übrige
lebende Kreatur dabei zu leblosen Maschinenteilen reduzieren
zu müssen. Die Mitwelt kann von keinem mehr absolut
verläßlich manipuliert werden, aber jeder, jede
und jedes kann in gewissem Grade an einer Gestaltung der
Zukunft kreativ mitwirken.
Diese
neuen Erkenntnissen vermitteln uns eine total verwandelte
Weltsicht.
Die
alte (klassisch physikalische) Weltsicht fing noch mit einer
Vielzahl von getrennten Objekten an: Atome oder irgendwelche
unabhängigen und unverbundenen "Teilchen", die aufgrund
von Wechselwirkungen Stufe um Stufe Gesamtsysteme aufbauen,
so daß sie, ihrem Namen gemäß, als Teile
und Unterteile dieser Systeme betrachtet werden können.
Die ganze Evolution der Welt vom "Urknall" vor etwa zwanzig
Milliarden Jahren, als sich solche "Teilchen" bildeten, kann
grob gesprochen als ein Prozeß der fortschreitenden
Ordnung der Vielheiten zu immer komplizierteren Systemen und
Systemverbänden bis hin zu den hochdifferenzierten
Organisationsstrukturen des Lebendigen und des Menschen
verstanden werden. Es bleibt offen, wie aus den
vielfältigen Zusammenballungen von ursprünglich
isolierter Materie je solche komplexen Gebilde mit den
Ausdrucksformen, die wir Leben und Bewußtseins nennen,
sollten entstehen können, genau so wenig wie ein noch
so großer und raffinierter Computer je einem Lebewesen
gleichen kann. In dieser Sichtweise scheint die Forderung
nach einem Zielpunkt, einem Zug von der Zukunft her, zum
Verständnis des Schöpfungsprozesses unentbehrlich.
Im
Gegensatz dazu, ist die neue Weltsicht im Grunde holistisch,
nicht atomistisch: Es existiert eigentlich nur das Eine, das
Ungetrennte, das Untrennbare. Doch ist diese Ausdrucksweise
irreführend, weil sich die Begriffe "Existenz", "Sein"
und das "Seiende" noch zu eng an unserer Erfahrung der
Realität, der stofflichen Wirklichkeit, in ihrem
ontischen Charakter orientieren und mit der Vorsilbe 'un-'
mehr ein Mangel suggeriert wird als etwas Positives, wie
etwa in Verbundenheit und Liebe. Das 'untrennbare Eine'
meint das Unbegreifliche, Numinose, auch das
Prozeßhafte und Potentialität, als nicht nur die
Möglichkeit, sondern auch das Vermögen zur
Schaffung von Realität, von greifbar Seiendem. Die
zeitliche Evolution besteht in einem fortschreitenden
Prozeß der Differenzierung dieses Untrennbaren durch
"Errichtung von Hindernissen, halbdurchlässigen
Grenzen, ähnlich wie bei der Zellteilung einer Zelle in
mehrere durch Neubildung von Zellwänden. Dies imitiert
die Entstehung von unabhängigen Subsystemen, die als
Teile des Gesamtsystems fungieren und aus denen dieses
Gesamtsystem als "zusammengesetzt" erscheint. Dies ist aber
nie der Fall, weil der Zusammenhang viel tiefer geht, so wie
etwa die sichtbar getrennten weißen Schaumkronen auf
stürmischer See nicht die Betrachtung rechtfertigen,
das Meer sei aus Wellen und Schaumkronen zusammengesetzt.
Das Sinnstiftende im Zusammenwirken der als-ob-Teile
entsteht immer aus dem Ganzen, das sie einschließt.
Dieses Ganze, Eine, ist immer da, ob das Meer "leer", glatt
und ruhig sich ausbreitet oder "voll", hoch differenziert
sich im Sturme wellt. Das Zusammenspiel der Wellen
führt zu einer Orientierung, die so aussieht, als
gäbe es ein vorgegebenes Ziel.
Auch
wir Menschen sollten uns nicht vorstellen, daß wir
wirklich getrennte Teile dieser Wirklichkeit sind, lose nur
aufeinander wirkend durch schwache Kräfte und einander
erkennend durch einige Licht-, Laut- und andere von der
Physik identifizierbare Signale, die wir uns zur
Verständigung wechselseitig zuwerfen. Wir sind alle
Teile dieses selben Einen, der selben Potentialität,
auf der wir gemeinsam gründen. Wir spüren dies
auch. Wie könnten sonst ein paar hingeworfene Worte und
Sätze mit ihrem dürftigen, abzählbarem
Informationsgehalt sich in unserem jeweiligen
Bewußtsein so reich entfalten. In einer Welt, die sich
hauptsächlich auf tatkräftiges Handeln orientiert,
ist es in der Tat eine brauchbare Approximation, uns
Menschen schlicht als getrennte Individuuen zu definieren,
die über äußere Kräfte - getragen von
energetischen Kraftfeldern - miteinander wechselwirken.
Daß diese Näherung unzureichend und höchst
mangelhaft ist, erkennen wir heute immer deutlicher an den
zerstörerischen Folgen unseres daraus resultierenden
unvernünftigen Umgangs miteinander und unserer Mitwelt,
bei dem vernachlässigt wird, daß diese Mitwelt ja
nichts Äußerliches ist, sondern unsere eigene
natürliche Lebensgrundlage darstellt.
Wir
haben also ein grandioses Weltbild, das seinen Reichtum
einer inhärenten Offenheit und 'Lebendigkeit' verdankt,
also dem Umstand, daß es eigentlich im alten Sinne gar
kein festes Weltbild mehr ist. Es meint eine Grundbeziehung:
Alles wurzelt in einer unauftrennbaren, irreduziblen
Potentialität, die Züge eines holistischen Geistes
trägt. Sie ist keine Realität, sondern
verhält sich zu ihr wie etwa die Ahnung, die Hoffnung,
der Wille zur daraus möglicherweise entstehenden
konkreten Handlung. Das Untrennbare spiegelt sich in einer
fundamentalen Gemeinsamkeit. Die Evolution im Realen, der
Gerinnungsprozeß, geht in Richtung auf teilweise
Auftrennung, Differenzierung und Emanzipation. Auch das
Erscheinen des Bewußtseins in jedem von uns ist eine
teilweise Abspaltung: ich löse mich in einer gewissen
und beschränkten Weise aus dieser unauftrennbaren
Wirklichkeit heraus und erfahre mich und das andere, die
Welt, auf einmal als zwei verschiedene Dinge, wo das eine -
das Ich, das mystische Ich - nun auch sich als Ego und der
Welt gegenübersteht und sie noch einmal von außen
wie im Spiegel betrachtet. Die Außenansicht kommt zur
Innensicht hinzu, ein Nebeneinander, wodurch Dualität
vorgetäuscht wird.
5.
Über die Beziehung von Wissen und
Glauben
Was
können wir wirklich wissen? Was ist prinzipiell nicht
wißbar und muß deshalb unserem Glauben
überlassen bleiben? Wie offen und willkürlich ist
ein solcher Glaube? Diese Fragen haben nicht nur akademische
Bedeutung. Angesichts der zunehmenden materialistischen
Ausrichtung und spirituellen Verarmung unserer modernen
Gesellschaft bekommen sie existentielle Bedeutung. Denn um
absichtsvoll handeln zu können, benötigen wir als
Menschen eine über das wissenschaftlich Meßbare
und analytisch Beweisbare hinausgehende Bewertung. Konkret
spiegelt sich dies in den heute vielfach diskutierten Fragen
wider nach der 'Bedeutung ethischer Werte' in der
Realisierung des Machbaren und, im historischen Kontext, der
'Zukunft von Religion und Glauben in einer wissenschaftlich
orientierten und dominierten Gesellschaft, einer
Gesellschaft, die Wahrheit aus objektivierbaren Fakten und
Prozessen bezieht. Sie sollte, in meinem Verständnis,
nicht als Wissensgesellschaft bezeichnet werden, denn Wissen
wird erst zum Wissen durch Verständnis, das nicht
äußerlich, nicht objektivierbar ist.
Als
Physiker betrachte ich mich als aktiver Vertreter dieser
wissenschaftlichen Welt. Als Mensch fühle ich mich dem
Umfassenderen verbunden. Dies wird mir die Gelegenheit
geben, noch einige Worte der Vorsicht gegenüber meiner
vorgetragenen Darstellung einzuflechten, bei der ich mich in
der notwendigen Straffung allzu großzügig
über wesentliche kritische Feinheiten hinweggesetzt
habe.
Die
Hauptkritik richtet sich vor allem auf die Frage, inwieweit
die tiefen Einsichten eines Atomphysikers, die er in seiner
Mikrowelt gewonnen hat, sich überhaupt eignen, auf uns
als Menschen und unsere Lebenswelt anwendbar zu sein. In der
Tat: Diese Strukturen der Mikrowelt spielen, wie es scheint,
in der viel größeren Mesowelt, in der wir leben,
gar keine Rolle. Denn wir wissen doch aus unserem Alltag,
daß die Approximation einer objektivierbaren Materie,
ihre Auftrennbarkeit, Unterschiedlichkeit,
Unabhängigkeit ausgezeichnet funktioniert. Auf ihr
basiert doch unsere langjährig erprobte und höchst
erfolgreiche Technik.
Grob
betrachtet ist dies zweifellos richtig. Die
Mikro-Gesetzlichkeit hat es schwer, erkennbar bis in die
Mesowelt vorzudringen. Das liegt an der großen Zahl -
es sind Billionen mal Billionen - dieser exotischen
Mikro-Wesenheiten, die in Objekten unserer Mesowelt
enthalten sind. Das lebendige, offene Spiel der
Unterstrukturen mittelt sich deshalb einfach in der Regel
vollständig heraus.
Unsere
Mesowelt ist also eine statistisch ausgemittelte Mikrowelt.
Daß diese Ausmittelung so vollständig gelingt,
liegt wesentlich am sogenannten 'Zweiten Hauptsatz der
Thermodynamik'. Im Grunde drückt er nur das für
uns Offensichtliche aus, daß in Zukunft das
Wahrscheinliche wahrscheinlicher passiert. Dies hat jedoch
die wesentliche Folge; daß in einem sich selbst
überlassenen System in der Regel jede Besonderheit,
jedes Ausgezeichnetsein im Laufe der Zeit zerstört wird
und sich in Unordnung auflöst. Das können wir
täglich an unserem Schreibtisch beobachten. Aus einem
uns unverständlichen Grunde wird er immer
unordentlicher und nie ordentlicher. Deshalb verstehen wir
nicht, wie es in einer Natur mit ihrem starken Hang zu
Unordnung überhaupt kommen kann, daß bei der
Evolution so hochdifferenzierter Systeme, wie uns Menschen
oder die vielfältigen Organismen des Biosystems, die
Unordnung sich nicht durchsetzt. Hat die Natur für
ihren lebendigen Teil nicht doch eine Ausnahmeregelung beim
'Zweiten Hauptsatz' bei einer höheren Instanz erwirkt?
Nach
heutiger Einsicht scheint es keine solche Ausnahmeregelung
zu geben. Die unbelebte und die belebte Natur basieren auf
derselben Art von Prä-Materie, die im Grunde, wie uns
die moderne Physik lehrt, eigentlich keine Materie ist und
einer viel offeneren und gewissermaßen "lebendigen"
Dynamik folgt. Aber diese lebendige Prä-Materie kann
sich auf verschiedene Art organisieren.
Einmal
geschieht die Organisation ganz ungeordnet und unkorreliert.
Dann wird das resultierende Gesamtsystem stumpf, langweilig
und apathisch. Es trägt die Züge der unbelebten
Materie. Wir schätzen diese geronnene Form, diese
Schlacke, wegen ihrer Verläßlichkeit. Wir
schätzen die Materie wegen ihrer steten Bereitschaft
sich von uns widerspruchslos manipulieren zu lassen. Sie
dient uns als Werkzeug und Baustoff. Und das schätzen
wir: Etwas Verläßliches, das uns bedingungslos
gehorcht, das keinen eigenen Willen entwickelt.
Aber
wenn sich diese Prä-Materie auf raffiniertere Weise zu
einem geordneten, differenzierten Gesamtsystem formiert,
dann können Strukturen entstehen, in denen das im
Grunde embryonal Lebendige auch in der Mesowelt zum Ausdruck
kommt und zum lebendigen Organismus wird. Die
eingeprägte Potentialität wird makroskopisch
sichtbar. Dazu braucht es aber eine enorme Verstärkung.
Das Gesamtsystem muß weit weg von seinem
Gleichgewichtszustand sein, um ein Ausmitteln seiner inneren
Lebendigkeit zu vermeiden. Auf diese Weise kann sich die
inhärente Lebendigkeit auch äußerlich
emanzipieren.
Stellen
Sie sich ein physikalisches Pendel vor: ein
herabhängender, beweglicher Stab mit einem Gewicht
unten. Es pendelt beim Anstoßen vorhersehbar und
berechenbar um seine untere stabile Gleichgewichtslage.
Drehe ich jedoch Stab und Gewicht weit weg vom unteren
stabilen Gleichgewicht in die oberste Lage, so gibt es dort
eine weitere Gleichgewichtslage, die aber instabil ist. Wir
wissen nicht, ob das Pendel auf die eine oder andere Seite
herunterfallen wird. In diesem Instabilitätspunkt kann
das System die inhärente Lebendigkeit sichtbar werden
lassen, weil es von winzig kleinen Störungen
abhängt, ob es zu dem einen oder anderen
Bewegungsablauf veranlaßt wird. Das ist nur ein
primitives Beispiel. Die Naturwissenschaft kennt viele
Systeme mit solchen eingeprägten Instabilitäten.
Sie führen zu einem, wie man sagt, "chaotischen"
Bewegungsverhalten. Kleine Veränderungen in den
Ursachen bewirken hier extreme Unterschieden in den Folgen:
Der Schlag eines Schmetterlingsflügel, kann einen
Taifun auslösen!
Leben
- belebte makroskopische Organismen - erfordern Strukturen
in der Nähe von inhärenten Instabilitäten.
Aber Instabilitäten kippen. Um sie lange in der
prekären Balance zu halten, müssen sie dauernd
nachjustiert, also dynamisch stabilisiert werden. Dies
erfordert eine "intelligente" Zuführung von Energie.
Diese Systeme brauchen ständig eine "ordnende,
austarierende Hand". Diese Situation steht also nicht im
Widerspruch zum 'Zweiten Hauptsatz', der dominanten Tendenz
zur Unordnung. Denn es ist ja auch unsere ordnende Hand, die
am Wochenende unseren Schreibtisch immer wieder in Ordnung
bringen kann. Dazu ist (arbeitsfähige) Energie
nötig - sie wird von der Hand gereicht. Aber die Hand
darf dabei nicht nur "werkeln", sie muß auch darauf
achten, was sie tut, sie muß intelligent sein, denn
sonst beschleunigt sie nur den Prozeß zur Unordnung.
Lebendige
Systeme brauchen deshalb Nahrung, gespeicherte
Sonnenenergie, doch auch auswählende Intelligenz, eine
"geistige" Führung, die prinzipiell im immateriellen
Form-Grund verankert ist und sich in der Milliarden Jahre
langen Evolution des Biosystems durch ein Plus-Summen-Spiel
in komplexen Verästelungen immer höher
differenziert hat.
Die
von der Sonne zugestrahlte hochgeordnete Energie ist
letztlich der Motor für die Entwicklung des Lebens auf
der Erde. Sie wird aber nur zu einer ordnenden Hand, wenn
ihre Energie sich von der kreativen Potentialität im
Hintergrund leiten läßt, die vermöge von
Instabilitäten in die Mesowelt durchstoßen
können. Unsere heutige ökologsiche Krise
hängt wesentlich damit zusammen, daß wir diesen
tieferen Zusammenhang nicht würdigen. Wir lassen uns
immer noch von der veralteten Vorstellung leiten, wir als
geist-begabte Menschen stünden außerhalb einer
rein materiellen Natur, die für uns nur Werkzeug,
Steinbruch und Müllkippe ist. Wir verkennen, daß
wir ein "Teil" eines gemeinsamen, größeren
komplexen Systems sind und auf hochsensible Weise in dieses
eingebunden sind. Dieses größere komplexe System
basiert auf einer unauftrennbaren Potentialität, die
für uns "unbegreiflich" bleibt. Potentialität
bietet aber die Möglichkeit in "Teilen" zu
Realität zu gerinnen und zu dem zu führen, was wir
in unserer Außenansicht und mit unseren Sinnen als
äußere Schöpfung wahrnehmen.
Hat
nicht diese holistische Potentialität, diese
unauftrennbare Ur-Lebendigkeit, zu der ich nur durch
Innensicht unmittelbaren Zugang habe, eine tiefe
Verwandtschaft zu dem Göttlichen, von dem die
Religionen sprechen? Der Schöpfer ist mit dem Urgrund
der Schöpfung identisch. Aber, was wir gewöhnlich
als Schöpfung durch Außenansicht erfahren, ist
nur die materielle Schlacke dieser geistigen
Urdynamik.
siehe
auch: Natur
und Zivilisation,
Ein lebensgefährlicher Konflikt und Möglichkeiten
des Überlebens , Wolfgang Fischer
(englisch)
(spanisch)
(Herbst 99) (pdf.Datei)
Emanzipation
Humanum,
Version Nov. 2000 - Kritik, Anregungen zu Form und Inhalt,
Dialog sowie unveränderter Nachdruck bei Quellenangabe
und Belegexemplar erwünscht. Übersetzung in andere
Sprachen erwünscht, Kürzungen und Änderungen
nach Absprache möglich
http://emanzipationhumanum.de/deutsch/wissen.html
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